Nötigung zum Austritt aus den Geschäftsleitungen durch das NS-Regime
Die in den 1920er Jahren in Thüringen gewachsene Parteienkonstellation, in der eine Zusammenarbeit der Parteien der Mitte mit den Linken kategorisch ausgeschlossen worden war, machte es den Nationalsozialisten unter Auslegung demokratischer Regeln in ihrem Sinn möglich, zunächst als Mehrheitsbeschaffer der Bürgerlichen (1924-1929) über deren Regierungskoalitionär (1930-1931) bis schließlich zur fast allein regierenden Vormacht (1932-1933) zu agieren.
Fatale Auswirkungen hatte die nationalsozialistische Landesregierung in Weimar auch auf die beiden Jenaer Stiftungsbetriebe Carl Zeiss und Glaswerk Schott & Genossen. Sie waren gegenüber der Schwer- oder der chemischen Industrie in Deutschland im Hinblick auf das Kapital zwar Leichtgewichte, doch war der Wunsch nach größerem Einfluß der neuen Machthaber auf die in der Welt einzigartigen Werke erheblich. Der Zugriff gestaltete sich allerdings besonders einfach, hatte doch Ernst Abbe im § 5 des Statuts der Carl-Zeiss-Stiftung festgeschrieben: »Die Rechte und Obliegenheiten der Stiftungsverwaltung sollen demjenigen Departement des Großherzogl. Sächs. Staatsministeriums zustehen, dem die Angelegenheiten der Universität Jena jeweils unterstellt sind«. So konnte sich der Thüringer Innen- und Volksbildungsminister Wächtler als oberster Herr über die Stiftungsbetriebe ansehen. Tatsächlich strebte er sehr bald »eine Reform des marxistisch und liberalistisch verseuchten Zeiss-Werks an Haupt und Gliedern« an. Schließlich ersetzte Wächtler am l. Juni 1933 den bisherigen, parteipolitisch neutralen Kommissar der Carl-Zeiss-Stiftung, den Oberverwaltungsgerichtspräsidenten Friedrich Ebsen (1871-1934), durch Julius Dietz, einen willigen Nazi-Gefolgsmann. Der war seit dem 1. August 1913 als kaufmännischer Angestellter im Zeisswerk beschäftigt, zunächst als Buchhalter und dann als Vorsteher der Verkaufsabteilung für medizinische Instrumente mit einem Büropersonal von neun Personen.
Dem Weimarer NS-Führungsapparat konnte nicht entgangen sein, daß Rudolf Straubel als einer der Zeiss- und Schott-Geschäftsleiter in striktem Gegensatz zu ihrer Ideologie stand. In seiner Würdigung des 90. Geburtstages von Straubel formulierte Maximilian Herzberger im Jahre 1954 rückblickend: »Als glühender Patriot und konservativer Aristokrat konnte er die neuen politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen nicht anerkennen.« Wenige Tage, nachdem der neueingesetzte Stiftungskommissar Dietz seine Verrichtungen aufgenommen hatte, ging er - in voller Übereinstimmung mit der Thüringer NSDAP-Führung - kompromißlos daran, Rudolf Straubel aus den Geschäftsleitungen beider Stiftungsbetriebe zu entfernen, obwohl dessen Funktion vertragsgemäß lebenslang vereinbart war.
Es mag aber wohl gestattet sein, neben der ethisch-moralischen Grundhaltung Straubels auch seine Ehe mit einer den nationalsozialistischen Gesetzen nach nichtarischen Ehefrau als ursächlichen Hintergrund anzunehmen. Die Vorgänge um Rudolf Straubels Entlassung sind im Buch von Reinhard Schielicke (1) ausführlich diskutiert worden. Unzweifelhaft ist, daß die Nötigung von der NS-Regierung in Weimar ausging. Straubel quittierte seinen Dienst in den Stiftungsbetrieben zum 30. September 1933, blieb aber dem Werk und den verbliebenen Geschäftsleitern verbunden.
(1) Reinhard E. Schielicke "Rudolf Straubel 1864 -1943", ISBN 978-3-939718-29-1
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"Der Straubel-Clan" 1933: Hintere Reihe von links: Hilde Knopf, Hedwig Knopf (Straubels Schwester), Antonie (Tony) Habermann (Straubels Schwester), Helene Langer, vorn: Otto Knopf, Therese Zuckerkandl, vor ihr Herta Langer, Rudolf StraubelFoto: Familienarchiv Linda Langer Snook, Norman, USA
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Ostern 1934, Rudolf Straubel beim Tranchieren des BratensFoto: Familienarchiv Linda Langer Snook, Norman, USA
Zu seinem 70. Geburtstag im Jahr 1934 erhielt Straubel zahlreiche Gratulationen, auch die Jenaer Zeitungen berichteten. 1936 ist er in einer Festschrift unter den 24 »Senioren der deutschen Physik« genannt worden. Er war auch einer der Jenaer Professoren, die im gleichen Jahr Stellung nahmen gegen die »arische« oder »Physik der nordisch gearteten Menschen«, kurz gegen die »Deutsche Physik«. Die »Gesellschaft der Freunde der Thüringischen Landesuniversität Jena«, zu deren Gründern Straubel 1921 zählte, wählte ihn 1932 in ihren Vorstand. Straubel nahm 1937 an den Feierlichkeiten zum 250. Jahrestag der Gründung der Leopoldina in Halle an der Saale teil, zu deren Mitglied er 1930 gewählt worden war.
Rudolf Straubels Lehrveranstaltungen wurden bis 1938 im Vorlesungsverzeichnis der Universität angezeigt, dann durften sie auf Anweisung aus Weimar nicht mehr erscheinen mit der Begründung, Straubel sei »jüdisch versippt«. 1935 ist ihm ein letztes Patent über einen Scheinwerfer mit Zusatzlinse für Deutschland, England, Frankreich, Italien, Osterreich, die Niederlande, Schweden, die Schweiz, die CSSR, Ungarn und die USA zuerkannt worden.
Den zunehmenden menschenverachtenden Restriktionen begegnete Rudolf Straubel durch verstärkte Hinwendung zur Lösung mathematischer und physikalischer Probleme. Seine Vortragstätigkeit hatte er in all diesen Jahren ohnehin nicht unterbrochen. Vor allem in der Mathematischen Gesellschaft Jena, aber auch im Optischen Colloquium handelte er im Durchschnitt zweimal pro Jahr mathematische oder optische Themen ab. Den letzten nachweisbaren Vortrag hielt er am 19. Februar 1943 über »Einzellinsen mit einer asphärischen Fläche«. Seine letzte Publikation »Zur Geometrie der Kugelpackungen, III.« ist am 3. Dezember 1943 bei der Redaktion der »Kolloid-Zeitschrift« eingegangen.
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Die 24 deutschen Senioren der Physik im Jahre 1936Foto: Bild- und Filmsammlung Deutscher Physiker 1936, S. XII
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Rudolf Straubel 1936Foto: Archiv Linda Langer Snook, USA
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Rechenzettel, Anfang der 1940er JahreFoto: ZEISS - Archiv
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Publikation Rudolf Straubels über KugelpackungenFoto: Kolloid-Zeitschrift 106(1944), S.81
Am 2. Dezember 1943 starb Rudolf Straubel an Bauchspeicheldrüsenkrebs.
Die Erinnerung an Rudolf Straubel ist zwiefach ausgelöscht worden: Unter den Nationalsozialisten galt er als »jüdisch versippt«, in der DDR als »kapitalistischer Manager und Exponent der aggressiven Politik des deutschen Imperialismus und Militarismus«.
Seine Frau, Marie geborene Kern (geb. 1865), ging am 20. April 1944 aus dem Leben, nachdem sie die Aufforderung zum »Abwanderungstransport« nach Theresienstadt erhalten hatte, ihre Schwester Therese Zuckerkandl (geb. 1861) ist schon am 10. September 1942 den gleichen Weg gegangen. Helene Langer, die Tochter Therese Zuckerkandls und Nichte Rudolf Straubels (geb. 1888) hat am 16. Juni 1944 aus gleichem Grunde Suizid begangen.